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Hubert Aiwanger: "Die Koalitionsregierung tut Bayern gut"

Hubert Aiwanger, Staatsminister für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie in Bayern. (Quelle: StMWi)

Der bayerische Kompromiss für die Betriebsschließungsversicherung ist für Hubert Aiwanger "ein Angebot an die Versicherungswirtschaft und an das Gastgewerbe". Im VWheute-Sommerinterview spricht der bayerische Wirtschaftsminister über die Folgen der Pandemie, die Zusammenarbeit mit dem Koalitionspartner CSU und die Bilanz der Ära Merkel.

VWheute: Wie ist der Freistaat durch die Krise gekommen?

Hubert Aiwanger: Die bayerischen Unternehmen erfuhren durch Betriebsschließungen, Nachfragerückgängen und Störungen in den Lieferketten eine starke Belastung. Es zeigte sich, dass multilaterale Verträge, schnelle Krisenreaktion und Unterstützung regionaler Wertschöpfungsketten die Mittel der Stunde waren, um Störungen zu vermeiden.
Nichtsdestotrotz verzeichnet nach ersten vorläufigen Berechnungen das BIP in Bayern einen Rückgang im Jahr 2020 gegenüber dem Vorjahreszeitraum minus 5,5 Prozent. Bayern erlebte im Jahr 2020 die stärkste Rezession seit Kriegsende. Die staatlichen Hilfen konnten in den 15 Monaten zum Glück das Schlimmste verhindern

Doch allmählich gibt es Licht am Ende des Tunnels. So konnten im April 2021 zum Vorjahresmonat das verarbeitende Gewerbe um 60,9 Prozent, die Automobil- und Zulieferindustrie um 234,6 Prozent und der Maschinenbau um 44 Prozent zulegen. Die bayerische Industrie profitierte von ihrer Exportorientierung.

Trotz dieser erfolgreichen Richtung spüren einzelne Branchen wie Kultur, Tourismus, Gastronomie, das Handwerk, Schausteller oder Messen, die besonders vom Lockdown betroffen waren, weiterhin die starken Nachwehen. In Bayern liegen die Umsätze bis April 2021 in der Gastronomie bei minus 43,3 Prozent, in der Beherbergung bei minus 83,3 Prozent und im Einzelhandel bei minus 21,7 Prozent zum Vorkrisenniveau im März 2020.

VWheute: Welche Lehren kann die Politik aus der Coronakrise ziehen?

Hubert Aiwanger: Corona war und ist für alle Beteiligten eine Ausnahmesituation und für jeden Bürger eine herausfordernde Situation. Deshalb kann ich die Forderung der Menschen nach schnellen und tragfähigen politischen Entscheidungen verstehen. Ich bin überzeugt: Bundes- und Landespolitik haben bis auf wenige Ausnahmen die richtigen Entscheidungen getroffen. Natürlich hat es auch Fehler gegeben. Ich bin kein Freund von Hoppladihopp-Entscheidungen und hinterfrage deshalb kritisch, ob eine Verordnung zum Wohl der Gesellschaft beiträgt.

Aus Sicht der Wirtschaft haben wir in den Pandemiezeiten gelernt, dass - ohne die große Bedeutung von Industrie und Großhandel infrage zu stellen - beispielsweise bei Lieferketten die regionale Wertschöpfung eine sehr wichtige Rolle einnimmt. Bayern ist ein Exportland. Daher schaden uns die in letzter Zeit immer wieder ins Gespräch gebrachten Forderungen nach Schutzzöllen. Bayerische Unternehmen importieren den überwiegenden Teil der Rohstoffe oder Vorprodukte. Es gibt keine Alternative zu offenen Märkten! 

Eine weitere Lehre ist, dass die Pandemie schonungslos aufdeckte, dass beim Thema Digitalisierung noch sehr viel Luft nach oben ist. Dies haben wir in Bayern schon vor der Pandemie erkannt. Kleine und mittelständische Betriebe profitieren beispielsweise vom Digitalbonus.

"Ich bin kein Freund von Hoppladihopp-Entscheidungen und hinterfrage deshalb kritisch."

Hubert Aiwanger (Freie Wähler), stellvertretender Ministerpräsident und Wirtschaftsminister von Bayern (seit 2018)

VWheute: Blicken wir auf die Gastronomie: Der "bayerische Kompromiss" dient als Vorbild für die Versicherungsbranche, Folgeschäden durch die Lockdowns aufzufangen. Dennoch sind zahlreiche Klagen - unter anderem an den Landgerichten München - gegen die Betriebsschließungen anhängig. Ist diese Kompromisslösung damit nicht gescheitert?

Hubert Aiwanger: Zunächst muss ich vorausschicken: Die Betriebsschließungsversicherungen waren zugeschnitten auf einzelbetriebliche Schließungen, um beispielsweise Gesundheitsgefahren zu verringern. Doch mit einer flächendeckenden Schließung, wie wir es 2020/21 erlebten, hat niemand gerechnet. Der von mir vermittelte Vorschlag für einen Kompromiss war ein Angebot an die Versicherungswirtschaft und an das Gastgewerbe. Beide Seiten standen in einer Phase großer Rechtsunsicherheit vor der Frage, wie eine für beide Seiten zumutbare Lösung aussehen könnte. 

Nach den mir vorliegenden Informationen wurden die individuellen Kompromissangebote der Versicherer an ihre Kunden in etwa drei Viertel der Fälle angenommen. Das ersparte beiden Seiten längere Gerichtsverfahren und die damit verbundenen Kosten. Das Gastgewerbe erhielt kurzfristig eine dringend benötigte  Liquiditätsspritze. Die derzeit weiterhin offene Rechtslage durch unterschiedliche Gerichtsentscheidungen zeigt mir, dass dieses Angebot richtig war.

VWheute: Die Versicherer machen sich schon seit Langem für einen staatlich-privaten Pandemieschutz stark: Wie bewerten Sie die Vorschläge aus der Branche?

Hubert Aiwanger: Ich begrüße kreative Lösungen und die Offenheit für neue Wege. Die gänzliche oder teilweise Schließung ganzer Volkswirtschaften durch staatliche Intervention im Zuge der Pandemiebekämpfung birgt ein Ausfallrisiko, das in seiner Höhe gewaltig ist. Die Eintrittswahrscheinlichkeit ist genauso unvorhersehbar wie die staatlichen Unterstützungsleistungen. Die mir bislang bekannten Vorschläge beschränken sich deshalb sämtlich auf einen privaten Teilschutz. Dies hat zur Folge, dass der Staat diese Lücken auffangen oder zumindest ergänzen muss. Aufgrund der hohen gesamtwirtschaftlichen Bedeutung ist hier in erster Linie die Bundesregierung gefordert. Bislang liegen jedoch noch keine konkreten Vorschläge vor.

VWheute: Bayern gilt bislang als größter Versicherungsstandort in Deutschland: Welche Bedeutung messen Sie der Versicherungsbranche für die bayerische Wirtschaft bei?

Hubert Aiwanger: Wie Ihre Zeitschrift in diesem Jahr 75 Jahre feiert, gibt es 2021 auch in Bayern einige Jubiläen in der Versicherungsbranche zu feiern. Als "runde" Beispiele sind die Allgemeine Brandversicherungsanstalt und die Bayerische Versicherungsbank zu nennen, die 1811 bzw. 1906 gegründet wurden. 

Alleine dieser Blick in die Geschichtsbücher zeigt, dass die Versicherungswirtschaft seit jeher in Bayern zu Hause ist. Seit Jahrzehnten nimmt sie im Freistaat eine wichtige Querschnittfunktion in der Wirtschaft ein. Versicherungen identifizieren, bewerten und übernehmen Risiken. Sie ermöglichen Unternehmen und Privatpersonen wirtschaftliche Chancen wahrzunehmen und die damit einhergehenden Risiken zu minimieren.

Mit München liegt der größte Versicherungsstandort Deutschlands in Bayern. In und um München haben ca. 70 Versicherungsunternehmen ihren Sitz. Versicherungen sind wichtige Arbeitgeber. In Bayern gibt es rund 100.000 Beschäftigte - entweder als Arbeitnehmer direkt beim Versicherungsunternehmen oder als selbstständiger Versicherungsvermittler und -makler.

VWheute: Herr Aiwanger, Sie sind seit 2018 als stellvertretender Ministerpräsident und Wirtschaftsminister in Bayern in Amt und Würden. Zeit also für eine Zwischenbilanz: Wie bewerten Sie Ihre bisherige Regierungsbilanz?

Hubert Aiwanger: Ich bin mit unserer Arbeit sehr zufrieden. Die Koalitionsregierung tut Bayern gut, gerade weil wir jetzt Themen anpacken, die sonst über die Jahre liegengeblieben wären. Ich denke nur an das Gaststättenförderprogramm zum Erhalt der Wirtshauskultur in Bayern, die Härtefallregelungen für diejenigen, die noch Straßenausbaubeiträge zahlen mussten oder etwa den wichtigen Ausbau der erneuerbaren Energien durch unser PV-Speicherprogramm oder durch unser offensives Vorgehen bei den PV-Freiflächenanlagen.

Ich sehe uns auch als Qualitätsverbesserer an den Stellen, wo es lange schon gehakt hat: Mein Kollege und Umweltminister Thorsten Glauber hat sich sehr erfolgreich hinter das Thema der Luftbelastung in den Städten geklemmt, ich habe mich mit einem eigenen bayerischen Förderprogramm und recht unorthodox mit eigenen Nachmessungen das Problem der weißen Flecken bei der Mobilfunkversorgung in den Blick genommen. Wir haben die von der CSU vorgeschlagene Einführung einer Grundsteuer C in Bayern verhindert und beispielsweise mit unserer Wasserstoffstrategie aus meinem Haus nicht nur in Bayern, sondern bundesweit neue Maßstäbe gesetzt.

Die für uns alle überraschend gekommene Corona-Pandemie haben wir sehr gut gemeistert: Wir haben in der Stunde der Not so schnell wie kein anderes Land Hilfen ausgezahlt, eine eigene Masken- und Desinfektionsmittelproduktion aufgebaut und auch in recht kurzer Zeit einen funktionierenden digitalen Unterricht für über eineinhalb Millionen Schüler in Bayern auf die Beine gestellt. Was uns viele noch vor 2018 nicht zutrauen wollten, ist widerlegt: Wir sind nicht nur regierungsfähig, sondern auch krisenfähig.

VWheute: In Bayern sind die Freien Wähler erstmals in einem deutschen Bundesland in Regierungsverantwortung. Dabei hat die CSU in Bayern bekanntlich lange Jahre allein regiert. Welche Auswirkungen hat dies auf die Koalitionsbildung gehabt und wie ist die Zusammenarbeit mit der Union bislang verlaufen?

Hubert Aiwanger: Die CSU-Seite hat den Verlust der absoluten Mehrheit nur schwer verwunden. In der Selbstwahrnehmung fühlt sie sich weiterhin stärker als es der Wähler 2018 wollte. Inhaltlich haben wir in einer bürgerlichen Koalition natürlich viele Überschneidungen. Allerdings gehen wir nicht so verbissen ideologisch an die Sache. Uns sind die pragmatischen Lösungen wichtiger als die kompromisslose Verhandlung bis zum letzten Millimeter oder dem Festhalten an überkommenen Entscheidungen. 

Das sehen wir etwa bei der 10H-Regelung, bei der sich die CSU-Seite neben Bildern des Bäume-Umarmens zunehmend ein Glaubwürdigkeitsproblem einhandelt. Dessen ungeachtet regieren wir anders als im Bund oder in Nachbarländern wie Thüringen sehr unaufgeregt und haben bisher für jedes Problem eine Lösung gefunden. Wir spalten nicht, sondern suchen gemeinsam Lösungen für die Bürgerinnen und Bürger. Damit ist die bayerische Koalition auch insgesamt ein wichtiger Stabilitätsanker für Deutschland geworden.

VWheute: Ministerpräsident Markus Söder zählt sich bekanntlich zum "Team Vorsicht". Im "Sonntags-Stammtisch" des BR haben Sie sich jüngst für weitere Lockerungen starkgemacht, was durchaus im Widerspruch zu Ihrem Koalitionspartner steht. Inwieweit können Sie als Koalitionspartner die Corona-Politik der CSU mittragen?

Hubert Aiwanger: Die Corona-Politik in Bayern ist das Ergebnis der Einigung in unserer Bayernkoalition. Gemeinsam müssen wir immer wieder einen neuen Kompromiss über die Verlängerung der Maßnahmen finden und das ist uns bisher gut gelungen. Wir haben in der Koalition selbstverständlich teils unterschiedliche Vorstellung hinsichtlich des Umfangs und der Dauer der Maßnahmen. Es geht hier schließlich auch nicht um Bagatellen, sondern erhebliche Grundrechtseingriffe und mit Blick auf die Wirtschaft auch um Existenzen. Ich bin der Überzeugung, dass unsere unterschiedlichen Akzente die politischen Entscheidungen stets verbessert haben. Bayern wäre mit einem reinen "Team Vorsicht" möglicherweise immer noch im Lockdown.

VWheute: Werfen wir zum Abschluss noch einen Blick auf die Bundestagswahl im September: Angela Merkel wird nach 16 Jahren ihre Kanzlerschaft beenden. Wie sieht Ihre Bilanz ihrer Regierungszeit aus?

Hubert Aiwanger: Ich vermisse in der Innenpolitik die Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit: Der Mut zu großen notwendigen Reformen wie im Bereich Rente oder Maßnahmen für den Klimaschutz hat mir gefehlt. Sie war mehr Verwalterin als Gestalterin. Während der Wirtschafts- und Finanzkrise hat sie mit ihrem Drang, Krisenstaaten auf Biegen und Brechen im Euroraum halten zu wollen, einen Fehler begangen. 

Zudem hat sie den deutschen Alleingang in der Flüchtlingskrise 2015 zu verantworten. Sie hat damit unser Land bis heute tief gespalten und extreme Kräfte groß gemacht. Ungeachtet dessen möchte ich ihre über 16 Jahre andauernde  Verlässlichkeit und die Kontinuität in der internationalen Politik zugutehalten. Hier hat sie doch insgesamt, sei es im G7-Format oder auf EU-Ebene, Deutschlands Rolle eines berechenbaren Stabilitätsankers gestärkt.

VWheute: Die Grünen haben mit Annalena Baerbock erstmals eine Kanzlerkandidatin nominiert. Warum würde sie sich aus Ihrer Sicht als Bundeskanzlerin eignen?

Hubert Aiwanger: Ich fürchte, da fällt mir nicht viel ein. Frau Baerbocks falsche Angaben im Lebenslauf sind eine große Hypothek für das wichtigste Staatsamt, in dem es um Vertrauen, Integrität und Verlässlichkeit geht. Unsicherheiten bei Begriffen, wie Kobold statt Kobalt im Fall der Inhaltsstoffe von Batterien, tragen nur schwer zu einer Eignung bei.

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Veröffentlicht am 30.06.2021
 
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